Sevelen – Unterwegs im westlichsten Dorf der Ukraine
Drei Jahre dauert nun der der Angriffskrieg der Ukraine. Wie und wann er endet, ist unklar. Der Verein Humanitäre Nothilfe, den Connexio develop unterstützt, leistete von Anfang an Hilfe. Ueli Frei, ehemaliger Geschäftsführer erzählt davon.
Blau und Gelb sind die Farben der Ukraine. Blau steht für die Weite des Himmels, Gelb für die ebenfalls fast unendlichen Weizenfelder. Um die Ukraine zu beschreiben, wäre noch die Farbe Schwarz zu nennen: Im Süden erstreckt sich das Schwarze Meer – das Tor zur weiten Welt.
Dunkle Wolken am Horizont
Die Ukraine muss ein faszinierendes Land sein. Ich beschliesse, auf Silvester 2021/22 hinzufliegen. Vor der Reise nach Kyiv habe ich diesen Eindruck vom Land: Eine aufstrebende Wirtschaft, ein buntes kulturelles Angebot, die Lebensfreude der Menschen. Allerdings ziehen dunkle Wolken am Horizont auf. Seit dem Herbst 2021 ist ein Truppenaufmarsch Russlands zu beobachten. Bereits vor Weihnachten glaube ich nicht mehr, dass dies nur eine Drohkulisse ist. Zu meinen Reisevorbereitungen gehört es nun auch, mir meine Reaktion im Ernstfall zu überlegen. Der Ernstfall wäre ein Einmarsch. Ich lege mir eine Fluchtroute zurecht
Die Reise ist letztlich nicht zustande gekommen. Eine Krankheit hat meine Pläne zunichte gemacht. Aber ich werde sie nachholen. Ich will diesen Menschen begegnen, die unterdessen drei Jahre Krieg hinter sich haben. Sie haben vieles verloren, aber eines nicht – ihre Hoffnung.
Das Unfassbare geschieht
Im Februar 2022 ist der Ernstfall eingetreten. Russische Truppen marschieren in die Ukraine ein. Es beginnt eine Fluchtbewegung nach Westen. Ich möchte etwas für die Ukrainerinnen und Ukrainer bei uns in der Schweiz tun. Der Verein Humanitäre Nothilfe sucht im September 2022 für drei Monate einen Geschäftsführer für seine Hilfsaktionen. So nebenbei ist ein Schulbetrieb aufzubauen. Das scheint mir die richtige Aufgabe für den Einstieg zu sein.
Ich bleibe in dieser Arbeit. Ab Januar 2023 kann ich mich ganz dem Schulbetrieb im Tageszentrum in Sevelen widmen. Das Angebot wächst. Mit starker Förderung des Kantons werden die Sprachkurse dreistufig organisiert. Ein besonderer Fokus liegt beim Einüben des Sprechens. Hinzu kommt ein Malkurs für Kinder. Für Helfende wird ein Kurs in ukrainischer Sprache auf die Beine gestellt. Im Kochclub können soziale Kontakte gepflegt werden. Hier wird in meist fröhlicher Runde zusammengesessen.
Voller Einsatz
In der Leitung des Zentrums tauchen neue Fragen auf. Die Lehrpersonen engagieren sich enorm, selbst über die Weihnachts- und Neujahrstage. Das ist wichtig, doch besteht die Gefahr des Ausbrennens. So führe ich kursfreie Wochen ein. Schliesslich einigen wir uns im Team darauf, den Ferienkalender der Volkschule zu übernehmen. Es braucht diese Unterbrüche. Die Lehrpersonen können durchatmen, bei den Lernenden sich der Stoff setzen. Verstärkt achten wir auf die mentale Verfassung der Kursbesucherinnen und Kursbesucher. Jede Woche ist eine psychologische Fachkraft im Haus. Sie muss nichts tun, ist einfach da und hört zu. So wird sie für viele zu einer wichtigen Stütze.
Aus Lernenden werden Helfende
Im Tageszentrum feiern wir, als die ersten Absolventinnen und Absolventen eine Arbeitsstelle finden. Der Schulbetrieb wird grösser, das Angebot differenzierter. Wir beginnen, ukrainische Trainées als Unterrichtsassistenzen einzustellen. Das ist für sie selber ein sprachlicher Booster. Zugleich eröffnet dies neue methodische Möglichkeiten in den Kursen. Bald besteht das Team zur Hälfte aus unseren früheren Schülerinnen und Schülern. Über eine akkreditierte Sprachschule werden sie in ihrer Unterrichtstätigkeit geschult. Nach einem Kursdurchgang erhalten sie ein Diplom. Es macht Freude, ein solches Papier in den Händen zu halten. Zugleich wächst die Hoffnung, eine angemessene Anstellung in der Schweiz zu finden. Rund 60% der Ukrainerinnen und Ukrainer haben ein Studium absolviert. Beim aktuellen Fachkräftemangel muss es doch möglich sein, seine eigenen Fähigkeiten einsetzen zu können.
Der Betrieb wächst
Das Tageszentrum Ukraine in Sevelen ist aus der spontanen Hilfsbereitschaft nach Kriegsausbruch entstanden. Der Anstoss dazu kam von Grossrätinnen und Grossräten der St. Galler Politik. Dies hat eine grosse Welle der Solidarität ausgelöst. Ich stiess ein halbes Jahr später dazu. Nach zweieinhalb Jahren Einsatz gebe ich die Leitung des Zentrums ab. Der Kursbetrieb wird von einer Stiftung mit Sitz in Buchs weitergeführt. Diese hat in allen Bereichen breitere Möglichkeiten zum Fördern und unterstützen.
Die Arbeit im Tageszentrum war intensiv, spannend und bereichernd. Wahrscheinlich setze ich mich irgendwann hin und schreibe über meine Erlebnisse ein Buch. Den Titel habe ich bereits: Sevelen – Unterwegs im westlichsten Dorf der Ukraine.

Ueli Frei arbeitet in der Methodistischen Kirche für das Archiv und die Bibliothek, betreut die methodistische Bibliothek in Lausanne und ist im Board of Directories,des United Methodist Publishing House in Nashville.
Er ist Gründer von ARCHPUNT und arbeitet derzeit an einer Biografie über Bischof John L. Nuelsen.
Der Krieg dauert an, die Menschen leben in Ungewissheit und es fehlt nach wie vor an Allem.
Und selbst wenn der Krieg endet, sind die Misstände nicht behoben.
Deshalb ist das Land noch immer auf Hilfe angewiesen