«Flor, wir müssen mit dir reden!»

Die Kinder nennen sie «Flor» und auch wenn sie gerade Büroarbeit macht, hat sie ein offenes Ohr für spontane Anfragen. Florencia de Miguel ist Sozialarbeiterin im sozialpädagogischen Zentrum der «Lechería de la Solidaridad». Sie erzählt, was sie motiviert und manchmal auch frustriert. Und wie Kinder sich verändern, wenn sie erleben: hier werde ich respektiert und darf sein, wie ich bin.

Wer im Viertel San Pablo in der argentinischen Provinz Buenos Aires lebt, hat wenig Aussicht, der Armut zu entkommen. Um Kindern und Jugendlichen die Chance auf eine bessere Zukunft zu geben, bietet die Lechería Bildung und Fürsorge. Dazu gehören warme Mahlzeiten, Hausaufgabenhilfe, Stützunterricht, Bildungs- und Freizeitangebote und psychosoziale Begleitung. Connexio develop, unterstützt diese Arbeit seit vielen Jahren.

Pläne beiseiteschieben

Florencia de Miguel begleitet seit mehr als sechs Jahren Kinder, Jugendliche und Eltern in schwierigen Situationen. Manchmal machen die Kinder ein Gespräch ab: «Flor, wir müssen mit dir reden!» Oder es ergibt sich, ungeplant, eine schwierige Situation in einem Zimmer der Jugendlichen. «Dann schiebe ich alles, was ich für den Morgen geplant habe auf den Nachmittag, weil ich zuerst mit den beiden Schülern rede, vielleicht die Familien einbeziehe.» Wenn eine Lehrperson ein Problem mit einem Kind hat, arbeitet sie mit dieser. Sieht sie ein Kind eine Weile nicht und hört nichts von ihm, dann geht sie zuhause vorbei und spricht mit der Mutter. Sie dokumentiert alle Interventionen. Manchmal nimmt sie an den Aktivitäten der Kinder teil oder sie arbeitet gemeinsam mit einer Psychologin mit Teenagern und Jugendlichen an einem Thema, wie beispielsweise «Frieden».

Zumindest begleiten

 «In der Lechería zeigen alle eine enorme Hingabe», findet Florencia de Miguel. «Wir gehen in dieselbe Richtung und das einzige Ziel, das wir haben, sind die Kinder und ihre Familien. Das ist es, was uns motiviert. Und auch, dass wir hier eine Bevölkerung haben, die mit vielen Problematiken lebt. Wenn ich auch nur eine Situation lösen oder begleiten kann – denn oft kann man es nicht lösen, aber zumindest kann ich begleiten – dann bin ich zufrieden.» Das kann eine Schulsituation sein oder eine Situation von Gewalt, oder eine schwierige wirtschaftliche Situation.»

Armut nimmt zu

In den letzten Monaten hat die Armut in Argentinien stark zugenommen. Familien, die bisher mit der Sozialhilfe durchkamen, bekommen nun Schwierigkeiten. «Wir sehen, dass die Kinder teilweise einmal am Tag in der Schule essen und am Abend, wenn zuhause etwas da ist. Wir merken auch, dass bei uns mehr Bananen weggehen.» Es gibt Personen, die suchen Arbeit und finden keine. «Und es gibt Personen, die, so kann man sagen, nie eine Kultur des Arbeitens hatten und sich entschieden hatten, so zu leben. Wenn sie jetzt nicht arbeiten, dann fehlen ihnen die Lebensmittel. Und manchmal habe ich etwas Mühe, das zu verstehen. Denn es sind Leute, die jung und gesund sind, die arbeiten könnten.» Klar, als Sozialarbeiterin könne sie Vorschläge bringen und helfen, Lebensläufe zu schreiben. Aber letztlich sei es die Entscheidung des anderen.

Spezielle Arbeit mit Kindern

Was ist für sie das Spezielle an der Arbeit mit Kindern? «Dass es schwieriger ist. Wenn ich mit Erwachsenen arbeite, sage ich mir: gut, der Erwachsene kann Entscheidungen treffen.» Bei Kindern sei ihre Situation manchmal von Entscheidungen von Erwachsenen abhängig. Es komme vor, dass die Erwachsenen schwierige Entscheidungen treffen würden. «Dann kannst du nicht helfen. Manchmal musst du dann die eigene Frustsituation bearbeiten.» Speziell sei auch, dass Kinder oft sehr resilient seien. «Aber ja, es ist trotzdem schwieriger. Weil du mehr Verantwortung hast.»

Eine andere Normalität

Im Quartier gibt es viel Gewalt. Banden bekämpfen sich und die Kinder hören frühmorgens Schüsse. Sie verinnerlichen diese Erfahrungen. «Es ist wichtig, dass sie hier über das sprechen können, was sie erleben und auch sehen, dass das nicht das Normale ist. Dass es nicht gut ist, was passiert», betont Florencia de Miguel. Gewalt dürfe sich nicht einfach so ausbreiten, nicht im Quartier und nicht in den Familien. Es gäbe auch Kinder, die ein gewaltbereites Verhalten zeigten. «Manchmal merken sie nach einer Weile, dass es hier nicht nötig ist, so aufzutreten. Weil sie bei uns auf andere Weise respektiert werden.»

Vorsichtig optimistisch

Die Kinder beginnen dann, ihr Verhalten zu ändern. «Aber es kostet sie etwas. Denn viele sind seit sehr klein von zu Hause geprägt, von einer Behandlung und einem Verhalten. Es ist sehr schwierig, dass sie verstehen, dass wir einander hier nicht anschreien. Aber mit Respekt, gibt es ganz kleine Veränderungen. Nicht bei allen, aber doch, es gibt Veränderungen.» Also kann sie optimistisch sein? «Ja, ich glaube, ja. Aber: es ist nicht leicht. Es gibt viele Beispiele, die zeigen das ganze Gegenteil von dem, was wir ihnen hier beibringen wollen. Aber ich glaube, dass wir sie trotzdem positiv beeinflussen. Und ich habe Hoffnung, wenn ich Gespräche mit den Mamas und Papas habe und ihnen etwas sage oder vorschlage. Ich merke, dass sie hören. Und etwas, etwas nehmen sie auf.»

Beitragsbild: Florencia de Miguel (Foto: Roman Gnägi)
In Kürze
• Die Sozialarbeiterin Florencia de Miguel arbeitet im sozialpädagogischen Zentrum „Lechería de la Solidaridad“ in Buenos Aires (Argentinien) und unterstützt Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen.
• Die „Lechería“ bietet Bildung und Fürsorge, einschließlich warmer Mahlzeiten, Hausaufgabenhilfe und psychosozialer Begleitung, um Kindern und Jugendlichen eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
• Florencia de Miguel begleitet die Kinder und Jugendlichen individuell und arbeitet eng mit den Familien zusammen, um Probleme zu lösen oder zumindest zu begleiten.
• Die Armut in Argentinien hat zugenommen, und viele Familien haben Schwierigkeiten, ihre Grundbedürfnisse zu decken, was die Arbeit der „Lechería“ noch wichtiger macht.
• Trotz der Herausforderungen ist Florencia de Miguel vorsichtig optimistisch, dass die Kinder und Jugendlichen durch die Arbeit der „Lechería“ positiv beeinflusst werden können und dass sie langsam, aber sicher, ihre Verhaltensweisen ändern können.

 

Das unterstütze ich! 

Die „Lechería de la Solidaridad“ ist für rund 300 Kinder und Jugendliche ein sicherer Hafen, den ihnen ihre Eltern und ihr Umfeld oft nicht bieten können. Hier können sie ihre Fähigkeiten entfalten und üben, wie sie gut miteinander umgehen und Konflikte friedlich lösen können.

Connexio develop, Zürich, CH44 0900 0000 1574 7157 9 «Lechería de la Solidaridad, Argentinien»

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Nicole Gutknecht
Begegnungen & Kommunikation